Übersetzungen

 

Übersetzen kann ich leider "nur" aus dem Englischen. Bisher vor allem Erzählungen und Aufsätze, aber auch Romane und Sachbücher, u. a. für Bastei Lübbe und den Festa Verlag.

Zu den von mir übersetzen Autoren gehören Thomas Ligotti, H. P. Lovecraft, Fred Saberhagen und Clark Ashton Smith.

Edgar Allan Poe [1809-1849]

(Illustration für "Das schwarze Geheimnis. Magazin zur unheimlich-phantastischen Literatur")

Dem Festa Verlag verdanke ich den Auftrag, die berühmteste Geschichte meines Lieblingsschriftstellers E. A. Poe neu zu übersetzen. Der deutsche Titel "Die Auslöschung des Hauses Usher" soll auf den ersten Blick erkennbar machen, dass der Verlag die Mühe und die Kosten einer Neuübersetzung auf sich nahm. Ob beides sich gelohnt hat, möge der Leser entscheiden.

Poes "The Fall of the House of Usher" diente auch als Grundlage meiner eigenen Poe-Hommage, der Erzählung "Der Spukpalast" (erschienen in meiner Kollektion Morbus Sembten).

Die Übersetzung erschien in der von Frank Festa herausgegebenen Anthologie
Das rote Zimmer
.

 

(Rechts:
Unveröffentlichte Illustration zur Erzählung "The Man Who Collected Poe" [1951] von Robert Bloch, die sich gleich im ersten Satz als Hommage an Poes "The Fall of the House of Usher" [1839] zu erkennen gibt.)

 

Weitere Übersetzungen (Auswahl):

 

(Cover: Verlag)

 

(Cover: Verlag)

 

(Cover: Verlag)

 

(Coverillustration und -Gestaltung:
Malte S. Sembten)

 

(Coverillustration:
Jean Pascal Fournier)

:

 

Die Auslöschung des Hauses Usher
von Edgar Allan Poe

(Übersetzt von Malte S. Sembten)

Son cœur est un luth suspendu;
Sitôt qu'on le touche il résonne.
— De Béranger

(Sein Herz gleicht einer frei hängenden Laute;
Sowie man sie anrührt, erklingt sie.
— De Béranger)

Einen geschlagenen grauen Herbsttag lang war ich unter schweren Wolken einsam durch eine triste Landschaft geritten. Erst als es bereits dunkelte, tauchte endlich das Haus Usher vor mir auf. Ich bemerkte gleich eine eigentümliche Trübseligkeit, die ihm anhaftete. Dennoch konnte ich mir nicht erklären, warum meine Stimmung bei seinem Anblick derart absank. Was ich verspürte, hatte nichts von der düster-poetischen Empfindung an sich, die herbe Naturbilder mitunter erwecken. Doch wurde das Gefühl deswegen nicht erträglicher – im Gegenteil. Ich nahm den Anblick in mich auf: das Haus selbst sowie den kargen Bewuchs des Grundstücks; die nackten Mauern; die hohlen Fensteraugen; ein paar schlaffe Schilfrohre; ein paar weiße Rümpfe abgestorbener Bäume –, und fühlte mich so stumpf dabei, wie man es dem Opiumesser nachsagt, der aus seinem Rausch erwacht – dessen Traumgewebe zerreißt und ihn in den nüchtern Alltag hinausstößt. So sehr ich mich bemühte – die Kälte, die tiefe Schwermut, die mich erfasst hatten, ließen sich nicht in ein höheres Gefühl erhabenen Schauders verwandeln.

Ich zügelte mein Pferd und grübelte: Warum nur deprimierte dieser Anblick des Hauses Usher mich so sehr? Es war ein Rätsel! Und je länger ich nachdachte, desto mehr setzte meine Phantasie mir mit allerlei Einbildungen zu. Ich versuchte mich mit der Erklärung zu trösten, dass es eben bestimmte Anordnungen eigentlich harmloser Objekte gibt, die uns auf solche Weise an die Nerven fassen. Warum das so ist, übersteigt allerdings den menschlichen Verstand. Doch wäre es nicht möglich, überlegte ich, dass schon eine Umgruppierung einzelner Bestandteile der Szenerie, einzelner Bilddetails, hinreichte, um ihre ungesunde Wirkung zu mindern oder sogar aufzuheben? Mit diesem Einfall drängte ich mein Pferd zu dem abschüssigen Ufer eines schwarzen und unheimlichen kleinen Sees, der in ölig-glattem Glanz an das Bauwerk grenzte – und blickte hinab. Doch wider Erwarten fühlte ich mich nur noch elender, als ich die ins Spiegelbild verdrehten grauen Schilfrohre und gespenstischen Baumgerippe und hohlen Fensteraugen darin erblickte.

Und in dieser Heimstätte der Schwermut sollte ich nun einige Wochen lang zu Gast sein! Der Hausherr, Roderick Usher, war einer meiner besten Jugendfreunde gewesen. Leider hatten wir uns viele Jahre lang aus den Augen verloren. Ich lebte schon längst weit von ihm entfernt in einem anderen Teil des Landes, und eben dort hatte mich ein Brief von ihm erreicht. Der Tonfall dieses Schreibens war so ungestüm drängend, dass mir nur eine leibhaftige Antwort übrig blieb. Die Handschrift verriet nervöse Erregung. Usher schrieb von einer schweren körperlichen Erkrankung – von einer beängstigenden Geistesstörung – und von dem sehnlichen Verlangen, mich zu sehen. Nur von der heiteren Gesellschaft seines besten, ja seines einzigen Freundes erhoffte er sich eine Linderung seines Leidens. Aus all dem wie auch aus dem Rest des Briefes sprach eine solche Herzensnot, dass ich trotz meiner Verwirrung über Ushers sonderbare Einladung sofort aufgebrochen war.

Zwar waren wir einst unzertrennlich gewesen, doch wusste ich doch im Grunde wenig über meinen Freund. Schon als Knabe hatte er sich überaus verschlossen gezeigt. Immerhin war mir bekannt, dass seiner uralten Familie seit jeher ein überaus feinfühliges Naturell nachgesagt wurde. Über zahlreiche Generationen hinweg hatte diese besondere Sensibilität in manch erlesener Kunstschöpfung Ausdruck gefunden. In neuerer Zeit machte sie sich in einer großzügigen, jedoch diskreten Mildtätigkeit sowie – mehr noch – in einer Hingabe an die Tonkunst bemerkbar. Womit allerdings kein profaner Musikgenuss gemeint ist, sondern eine leidenschaftliche Hingabe an die Finessen der musikalischen Wissenschaft.

Außerdem wusste ich, dass der Hauptstamm der Familie Usher, so altehrwürdig er war, kaum jemals eine dauerhafte Seitenlinie hervorgebracht hatte. Vielmehr stammten die Ushers bis zum jüngsten Glied direkt vom Gründer des Geschlechts ab. Daraus folgerte, dass sowohl der Familienstammsitz wie auch die Familieneigenschaften der Ushers immer wieder unverändert von einer Generation auf die nächste vererbt worden waren. Mir kam nun der Gedanke, wie sehr der Wohnsitz und seine Bewohner einander aufgrund dieser Beständigkeit im Ablauf langer Jahrhunderte beeinflusst haben mochten … Und ich vermutete, dass diese fortwährende Weitergabe des Besitzes wie auch des Familiennamens immer nur vom Erzeuger auf den Spross im Laufe der Zeit beides – den Namen der Familie und den Stammsitz der Familie – miteinander verschmolzen hatte. So war der ursprüngliche Name des Besitztums irgendwann in der sonderbaren und doppeldeutigen Bezeichnung »Haus Usher« aufgegangen. Wenn die Bauern und Pächter der Umgegend vom »Hause Usher« sprachen, dann meinten sie damit die Familie selbst wie auch deren Stammsitz.

Ich sagte bereits, dass mein etwas albernes Experiment – in den See hinabzublicken – meinen ersten eigenartigen Eindruck sogar noch vertieft hatte. Und meine Erkenntnis, dass diese Art von Aberglauben – weshalb sollte ich es nicht so nennen? – rasch in mir anwuchs, trug erst recht dazu bei, dieses Anwachsen weiter zu beschleunigen. Dies ist das mir wohlbekannte, paradoxe Gesetz aller Empfindungen, die im Grauen wurzeln. Und es mag ebenso die Ursache für das sonderbare Hirngespinst sein, das in mir erwachte, als ich den Blick vom Spiegelbild des Hauses im See erhob und auf das Haus selbst richtete. Derart lächerlich war diese Einbildung, dass ich sie überhaupt nur erwähne, um die lebhafte Wirkung der mich bedrängenden Empfindungen deutlich zu machen. Hatte ich doch meine Vorstellungskraft so sehr aufgereizt, dass ich wahrhaftig glaubte, über dem Herrenhaus und dem gesamten Anwesen lagere ein besonderes, nur ihnen und ihrer unmittelbaren Umgebung eigenes Fluidum – ein Fluidum, gänzlich verschieden von der normalen Luft des Himmels, das von den Moderskeletten der Bäume ausdünstete, und von dem grauen Mauerwerk, und von dem schweigenden See: ein geheimnisvoller Pestatem, trüb, träge, nur schwach wahrnehmbar und von bleierner Färbung.

Es war ein Tagtraum – konnte gar nichts anderes sein. Ich schüttelte ihn ab und nahm nun das wirkliche Äußere des Hauses genauer in Augenschein. Vor allem fiel mir auf, dass es überragend alt sein musste. Die Zeit hatte es ausgebleicht wie einen Berg von blanken Knochen. Dünne Steinflechten überwucherten die fahlen Außenmauern in alle Richtungen und hingen als zartes Gespinst unter den Dachtraufen. Dennoch wies nichts auf fortgeschrittene Baufälligkeit hin. Kein Teil des Gemäuers war eingestürzt. Allerdings schien das gut erhaltene architektonische Gefüge in sonderbarem Widerspruch zu dem morschen Zustand der einzelnen Steine zu stehen. Die Fassade erinnerte mich an den trügerischen Erhaltungszustand alten hölzernen Gebälks, das unter Ausschluss frischer Luft jahrelang in irgendeinem vergessenen Keller vor sich hin gemodert ist. Sah man jedoch von diesen Anzeichen allgemeiner Verwitterung ab, schien das Mauerwerk an keiner Stelle sonderlich brüchig zu sein. Nur das Auge eines äußerst scharfsichtigen Betrachters hätte vielleicht einen kaum wahrnehmbaren Riss bemerkt, der vom Dach der Gebäudefront ausging und in einer Zickzacklinie über die Außenmauer abwärts verlief, bis er sich im trüben Gewässer des Sees verlor.

Während dieser Beobachtungen ritt ich über einen kurzen Dammweg zum Hause hin. Ein Knecht übernahm mein Pferd und ich trat durch den gotischen Torbogen der Vorhalle. Von hier aus geleitete mich ein Lakai schweigend und auf leisen Sohlen durch ein Labyrinth finsterer Gänge zum Atelier seines Herrn. Vieles, was ich unterwegs sah, verstärkte die unbestimmten Empfindungen in mir, von denen ich bereits sprach. Zwar war mir das Ambiente – die Deckenschnitzereien, die düsteren Wandbehänge, die Ebenholzschwärze der Dielen und der wild-phantastische Wappen- und Waffenschmuck, der zu jedem meiner Schritte rasselte – in seiner Weise durchaus vertraut. Ich erinnerte mich an dergleichen gut aus meiner Kindheit. Und dennoch erstaunte es mich, wie ungewohnt die Einbildungen waren, die solch altgewohnte Anblicke in mir wachriefen. Auf einem Treppenabsatz begegneten wir dem Hausarzt der Ushers. Aus seiner Miene meinte ich eine Mischung aus diebischer Durchtriebenheit und schlechtem Gewissen abzulesen. Mit einem verdrucksten Gruß ging er an mir vorüber. Jetzt stieß der Lakai eine Tür auf und führte mich zu seinem Herrn.

Ich betrat einen großzügigen, weiten Raum. Die Fenster waren hoch und schmal, liefen in Spitzbögen aus und begannen so weit über dem schwarzeichenen Parkett, dass sie von unten nicht erreichbar waren. Matte Strahlen karmesinroten Lichtes drangen durch die vergitterten Scheiben. Sie genügten gerade noch, um die auffälligeren Gegenstände leidlich zu erkennen. Jedoch versuchte das Auge vergebens, bis in die weiter entfernten Winkel des Gemachs vorzudringen oder in die Tiefen zwischen den mit Schnitzwerk geschmückten Spanten des Deckengewölbes zu spähen. Dunkle Draperien bekleideten die Wände. Die Einrichtung war überladen, unbequem, altertümlich und abgenutzt. Zahlreiche Bücher und Musikinstrumente lagen verstreut umher, ohne jedoch dem Ganzen auch nur einen Funken Leben einzuhauchen. Ich fühlte, dass ich eine von Gram geschwängerte Luft atmete. Eine Aura bitterer, tiefer und unheilbarer Schwermut hing über allem und durchdrang alles.

Bei meinem Anblick erhob Usher sich von einem Diwan, auf den hingestreckt er geruht hatte, und hieß mich willkommen. Die lebhafte Wärme, mit er mich begrüßte, kam mir zunächst unecht vor. Ich meinte darin die übertriebene – die affektierte – Herzlichkeit des gelangweilten, des blasierten Weltmannes zu verspüren. Doch ein Blick in sein Geesicht überzeugte mich von seiner völligen Aufrichtigkeit.

Wir nahmen Platz – und da er zunächst schwieg, betrachtete ich ihn einige Augenblicke lang mit einem Gefühl halb des Mitleids, halb der ehrfürchtigen Scheu. Und wahrlich, nie zuvor hatte ein Mensch in so kurzer Zeit eine solch furchtbare Veränderung durchgemacht, wie Roderick Usher! Ich musste mich wirklich überwinden, um in dem blutlosen Wesen dort vor mir den Gefährten meiner frühen Jugend wiederzuerkennen.

Allerdings, sein war Gesicht schon immer auffällig gewesen: Eine leichenblasse Hautfarbe; große, feucht schimmernde Augen von unvergleichlicher Leuchtkraft; schmale, sehr blasse, aber unübertrefflich schön geschwungene Lippen; eine Nase von erlesenem hebräischem Schnitt, zu dem die breiten Nasenflügel in Kontrast standen; ein fein geformtes Kinn, dessen mangelnde Ausprägung einen entsprechenden Mangel an Charakterstärke verriet. Haare, weicher und feiner als Spinnweb. Gemeinsam mit einer ungewöhnlichen Verbreiterung der Stirn oberhalb der Schläfen, ergaben all diese Merkmale ein Antlitz, das man nicht so leicht vergaß. Allerdings waren diese Züge seines Gesichts sowie der Ausdruck, der gewöhnlich darin lag, jetzt stark übersteigert – so sehr, dass ich kaum glauben konnte, wirklich Roderick Usher vor mir zu haben. Besonders erfüllten die geradezu gespenstisch gespenstische Blässe der Haut und der ins Übernatürliche gesteigerte Glanz der Augen mich mit Bestürzung, ja mit Schaudern. Zudem hatte das seidenfeine Haar ungehemmt wuchern dürfen, und es fiel, nein floss in seiner hauchdünnen Geschmeidigkeit so wirr und arabesk um das Gesicht herum, dass dieser Anblick mir beim besten Willen kaum noch menschenartig vorkam.

Das Benehmen meines Freundes fiel mir schnell als unstet auf, als unausgewogen. Bald schon entdeckte ich, dass dies auf Ushers dauernde, aber schwache und fruchtlose Versuche zurückging, ein beständiges banges Beben der Gliedmaßen, eine heftige nervöse Unruhe, zu unterdrücken. Auf etwas Derartiges war ich jedoch gefasst gewesen. Und zwar nicht nur durch seinen Brief und die Erinnerung an bestimmte Wesenszüge, die er bereits in Jugendjahren offenbart hatte, sondern ebenso durch seinen eigentümlichen körperlichen und seelischen Zustand. Seine Gestik war bald lebhaft, bald träge. Seine Sprechweise wechselte sprunghaft von stotternder Zerstreutheit (wenn seine Lebensgeister scheinbar schliefen) zu jener angestrengten, krampfhaft konzentrierten Sprechweise – zu jener abgehackten, schleppenden und zungenschweren Artikulation –, die man an Volltrunkenen bemerkt oder an unheilbaren Opiumessern im höchsten Fieber ihres Rausches.

In dieser Art und Weise sprach er vom Zweck meines Besuches, von seinem innigen Verlangen, mich zu sehen und von dem Trost, den er sich von mir erhoffte. Dabei erörterte er ausgiebig, wie er selbst seine Krankheit beschaffen sah. Es handelte sich, erklärte er, um etwas Anlagebedingtes, um ein Erbleiden seiner Familie, für das es einfach kein Heilmittel gäbe – im Grunde eine bloße Nervensache, fügte er hastig hinzu, die sicherlich bald vorüber ginge. Dieses Übel äußerte sich in einer Unzahl unnatürlicher Sinneseindrücke. Einige davon erregten mein Interesse, während er sie beschrieb, und bestürzten mich zugleich – was jedoch zum Teil auch an seiner Wortwahl und an seiner Sprechweise liegen mochte. Er litt sehr unter einer krankhaften Schärfung sämtlicher Sinne: Nur die fadeste Kost war ihm genießbar; er konnte nur ganz bestimmte Textilien am Leibe tragen; jegliche Blütendüfte wirkten atembeklemmend auf ihn; selbst der schwächste Lichtstrahl plagte seine Augen; und nur ganz bestimmte Töne, ausschließlich Saiteninstrumenten entlockt, erfüllten ihn nicht mit Abscheu.

Eine unnatürliche Form der Furcht hielt ihn, wie ich feststellte, eisern im Griff. »Ich werde daran zugrunde gehen«, sagte er, »ich muss an dieser erbarmungswürdigen Verrücktheit zugrunde gehen. Nur sie, sie allein und nichts sonst wird mich vernichten. Mir graut vor den kommenden Ereignissen – nicht um ihrer selbst willen, sondern wegen ihrer Folgen. Ich schaudere beim Gedanken an jedes Ereignis, selbst das allerbanalste, das sich auf diese unerträgliche Seelenangst auswirken könnte, die mich beherrscht. Ich fürchte wahrlich keine Gefahr – nur was sie mit sich bringt: die Angst. Ich fühle, dass ich in dieser zerrütteten – in dieser erbärmlichen Verfassung früher oder später so weit sein werde, dass ich Leben und Verstand zugleich einbüße, im Ringen mit dem grauenvollen Popanz namens FURCHT.«

Nach und nach schnappte ich bruchstückhafte, verschwommene Andeutungen auf, die mir eine weitere Eigentümlichkeit seines Geisteszustandes enthüllten. Er war besessen von gewissen abergläubischen Vorstellungen in Bezug auf das Haus, das er bewohnte und das zu verlassen er schon seit langer Zeit nicht mehr den Mut gefasst hatte. Angeblich übte das Haus einen Einfluss aus, dessen Wirkungsweise Usher in allzu nebulösen Worten erklärte, um sie hier zu wiederholen. Diesen Einfluss, sagte er, hätten einige Besonderheiten in der Bauart und im Baustoff seines Familiensitzes über sein von Krankheit geschwächtes Gemüt errungen: der materielle Zustand der grauen Mauern und Türme und des dunklen Gewässers, in das diese hinabblickten, hätte sich nach und nach auf seinen geistigen Zustand ausgewirkt.

Usher gab jedoch zögernd zu, dass auch eine näher liegende Hauptursache für seine sonderbare Schwermut und Seelenverdüsterung denkbar war. Nämlich das heimtückische und langwierige Siechtum – ja, die absehbare Auflösung – einer zärtlich geliebten Schwester, die er besaß, seiner einzigen Gefährtin seit vielen Jahren, ja seiner einzigen und letzten Familienangehörigen auf Erden. Ihr Tod, sagte er mit einer Bitterkeit, die ich nie vergessen werde, würde ihn, den Hoffnungslosen und Hinfälligen, als Letzten des uralten Geschlechtes der Ushers zurücklassen.

Noch während er dies sagte, strich seine Schwester, Lady Madeline, langsam im Hintergrund des Gemachs vorüber und entschwand, ohne mich zu beachten. Ich betrachtete sie mit äußerster Bestürzung, die nicht frei von Grauen war – ohne jedoch eine Erklärung für diese Anwandlung zu finden. Wie unter einer Lähmung hielt ich meine Augen auf ihre entschwebende Gestalt gerichtet. Als dann endlich eine Tür hinter ihr ins Schloss fiel, suchte mein Blick unwillkürlich und gespannt die Miene des Bruders zu deuten. Doch Usher hatte das Gesicht in den Händen vergraben und ich bemerkte nur, dass seine abgemagerten Finger noch blasser waren als gewöhnlich und dass ein Strom bitterer Tränen zwischen ihnen hervorquoll.

Dem Leiden der Lady Madeline war keine ärztliche Kunst gewachsen. Chronische Apathie, schleichendes Dahinwelken und häufige, wenngleich rasch vorübergehende, dem Starrkrampf ähnelnde Anfälle – so sah das ungewöhnliche, von den Ärzten festgestellte Krankheitsbild aus. Bislang hatte Lady Madeline dem Zehren der Krankheit getrotzt und das Krankenbett gemieden. Doch als der Tag meiner Ankunft sich neigte, warf (wie ihr Bruder mir in der Nacht unsagbar aufgewühlt mitteilte) das unerbittliche Fortschreiten der Krankheit sie auf ihr Lager nieder. So erfuhr ich, dass ihr erster, flüchtig mir gewährte Anblick wahrscheinlich auch der letzte sein würde, der mir vergönnt blieb – dass ich die Lady, zumindest lebend, niemals wiedersehen würde.

Während der nächsten Tage wurde ihr Name weder von Usher noch von mir selbst erwähnt. Stattdessen gab ich mir alle erdenkliche Mühe, die Schwermut meines Freundes zu lindern. Wir malten und lasen miteinander, oder ich lauschte gleichsam traumverloren seinem wild-spontanen Lautenspiel. Mit jedem Tag wuchs unsere Vertrautheit; mit jedem Tag ließ er mich freier in die Schattenwinkel seiner Seele blicken. Ich jedoch begriff nur desto bitterer die Vergeblichkeit all meiner Versuche, ein Gemüt aufzuhellen, von dem eine geradezu organische Finsternis ausstrahlte und sämtliche Dinge der geistigen und körperlichen Welt mit der düsteren Glut ewiger Trübsal übergoss.

Die vielen feierlichen Stunden, die ich auf diese Weise allein mit dem Herrn des Hauses Usher verbrachte, werde ich für immer in Erinnerung behalten. Und doch bin ich unfähig, irgendeine genaue Vorstellung von den Studien oder den Zerstreuungen zu vermitteln, in die er mich einführte oder einbezog. Eine leidenschaftliche und äußerst ungesunde Subjektivität tauchte gleichsam alles, was er tat, in einen schwefelgelben Glanz. Ushers endlose Klagegesänge, die der Augenblick ihm eingab, werden mir ewig in den Ohren klingen. Unter anderem erinnere ich mich peinvoll einer bestimmten eigentümlichen Pervertierung von Webers letzter Walzer. Nicht weniger beeindruckten mich die Malereien, die Ushers vertrackte Phantasie ausbrütete. Strich für Strich arteten sie unter seinem Pinsel immer weiter ins Nichtgegenständliche aus, bis mich ein Schaudern packte – und zwar desto mehr, als ich mir dies Schaudern nicht erklären konnte. Die meisten dieser Malereien sind (so deutlich sie mir jetzt auch vor Augen stehen) mit den bloßen Mitteln des geschriebenen Wortes beim besten Willen nicht zu schildern. Durch die radikale Schlichtheit, durch die äußerste Nacktheit der Darstellung, fesselte Usher den Betrachter und überwältigte ihn zutiefst. Wenn jemals ein Sterblicher eine Idee gemalt hat, dann war dieser Sterbliche Roderick Usher. Mir jedenfalls brachten – unter den damaligen Bedingungen – die schieren Abstraktionen, die dieser Überempfindliche auf die Leinwand zu bannen verstand, eine entsetzliche Furcht bei. Selbst die grausigen, aber allzu handfesten Traumgebilde eines Füßli haben mir niemals auch nur den Anflug einer solchen Angst eingejagt.

Eine der wild-phantastischen Ausgeburten meines Freundes, die dem strikten Geist der Abstraktion nicht ganz so stark verhaftet war, lässt sich (zumindest schattenhaft) mit Worten nachzeichnen: Ein kleinformatiges Gemälde zeigte die Innenansicht eines unerhört langen, rechtwinkligen Gewölbes oder Tunnels. Die niedrigen Tunnelwände waren glatt, weiß und ohne irgendeine Unterbrechung oder Ausschmückung. Gewisse subtile Aspekte der künstlerischen Ausführung deuteten an, dass dieser Schacht unermesslich tief unter der Erdoberfläche lag. Ein Ausweg war im Verlauf seiner endlosen Flucht nicht zu entdecken. Ebenso wenig sah man eine Fackel oder eine andere künstliche Lichtquelle. Und doch durchspülte diesen Tunnel eine Flut hellster Strahlen und tauchte alles in einen gespenstischen und widernatürlichen Glanz.

Ich sprach bereits von der krankhaften Verfassung des Hörnervs, die dem Leidenden jegliche Musik unerträglich machte, mit Ausnahme gewisser Saitenklänge. Vielleicht bewirkten gerade die erzwungenen Beschränkungen, die er seinem Lautenspiel auferlegte, das eigentümlich Phantastische seiner Darbietungen. Doch die furiose Mühelosigkeit seiner aus dem Stehgreif vorgetragenen musikalischen Rezitationen ließ sich damit nicht erklären. Unter normalen Bedingungen wären die geradezu aus dem Handgelenk gezauberten Noten und Worte dieser wild-phantastischen Improvisationen (denn Usher begleitete sein Lautenspiel nicht selten mit spontan erdachten Versvorträgen) undenkbar gewesen. Sie verdankten sich wahrscheinlich, ja sogar gewiss jener hochgradigen geistigen Sammlung und Konzentration, von der ich bereits sagte, dass sie nur in ganz bestimmten Momenten höchster, künstlich hervorgerufener Erregung auftritt. An die Worte einer dieser Rhapsodien erinnere ich mich noch genau. Sie beeindruckten mich im Laufe seines Vortrags desto tiefer, als ich auch ihren unterschwelligen oder versteckten Doppelsinn begriff – und darin erstmals einen Hinweis zu entdecken meinte, wie klar Usher selbst erkannte, dass sein erhabener Verstand auf seinem Throne wankte. Die Strophen mit dem Titel ›Palast der Gespenster‹ besaßen annähernd, wenn nicht genau, folgenden Wortlaut:

I

In einem Tal, duftdurchströmt und grün,
Wo ein Volk von Feen wohnte,
Sah man einen Palast steh’n
In dem ein König thronte.
Dieser Herrscher hieß Verstand –
Und sein stolzes Schloss
Ragte auf im Feenland
Mächtig, prächtig, stolz und groß.

II

Dort wehten vor den Himmelsweiten
Prachtbanner von den Zinnen
(Dies war in alten Zeiten,
Die lange schon von hinnen)
Und der linde Hauch der Luft
Von gold’nen Tagen
Hat manch süßen Blütenduft
Aus dem Palast getragen.

III

Durch ein Paar heller Fenster schaute,
Wenn er dies Tal durchquerte,
Der Wand’rer, wie zur Laute,
Deren Musik er hörte,
Im Takt gemess’ner Schritte
Beseelte Geister
Den Fürst in ihrer Mitte
Umschwebten – ihren Meister.

IV

Hell leuchtend von Perlen und Rubin,
Tat sich auf des Schlosses Tor
Und es zog ins Tal dahin
Ein wunderholder Echochor,
Dessen süße Pflicht es war,
Lieblich zu klingen
Und die Weisheit immerdar
Des Königs zu besingen.

V

Doch plünderten Siechtum und Sorgen
Dieses Herrschers Domizil
(Nie wird ihm mehr ein Morgen
Dämmern, seit die Mauer fiel!)
Und im ganzen tristen Tal
Ist all die Glorie
Nur ein Traum von dazumal;
Verblassende Historie.

VI

Und hinter glutentflammten Fenstern
Können Wanderer jetzt sehn
Mahlströme von Gespenstern
Sich zu schrillen Klängen drehn;
Und ein Fratzen-Sturzbach quillt
Aus dem fahlen Tor
Furchtbar lachend, ungestillt
Nie mehr lächelnd wie zuvor.

Ich erinnere mich gut, dass bestimmte Andeutungen in den Worten dieser Ballade uns von einem Gedankengang zum anderen führten – bis Usher eine Überzeugung zu erkennen gab, die nicht gerade neu war, denn andere vertraten diese Überzeugung bereits vor ihm. Ich erwähne diese Überzeugung aber aufgrund der Verbissenheit, mit der er sie verfocht. Es war, allgemein gesprochen, die Überzeugung von der Beseeltheit der Pflanzenwelt. Doch hatte diese Überzeugung in Ushers verstiegener Phantasie an Kühnheit noch gewonnen: unter gewissen Voraussetzungen beanspruchte sie nämlich Geltung auch für das Reich des Anorganischen. Mir fehlen die Worte, um das volle Ausmaß seines Glaubens und seine bierernste Unbeirrbarkeit darin zu vermitteln. Jedoch stand dieser Glaube (wie bereits angedeutet) mit den grauen Steinen seines Ahnsitzes in Verbindung. Usher bildete sich ein, dass auch hier die Bedingungen für eine solche Beseeltheit erfüllt wären: durch die Methode, nach der man die Steine gesetzt und geschichtet hätte – durch das Muster, dem die Anordnung der Steine, die Verteilung der darüber kriechenden Flechten und der Wuchs der skelettierten Bäume auf dem Grundstück folgten – aber vor allem durch das ewig lange, unveränderte Bestehen dieses Zusammenspiels und durch seine Widerspiegelung in den reglosen Wassern des Sees. Als Usher dann auch noch den Beweis nannte, den er für jene Beseeltheit zu besitzen glaubte, da fuhr ich wie unter einem Schlag zusammen: denn diesen Beweis sah er in der schleichenden, aber unverkennbaren Verdichtung eines eigenen Fluidums über dem See und um die Mauern herum. Das Ergebnis, ergänzte er, wäre an jenem stillen, doch beharrlichen und schrecklichen Einfluss erkennbar, der über Jahrhunderte hinweg die Geschicke seiner Familie bestimmt hätte. Ein Einfluss, der ihn zu dem gemacht hätte, was ich nun vor mir sähe – was er sei. Derlei Ansichten bedürfen keines Kommentars, und ich enthalte mich eines solchen.

Wie zu vermuten, passten jene Bücher der Hausblibliothek, die jahrelang den Geist des Kranken genährt hatten, sehr gut zu dieser Persönlichkeit mit ihren Wahnideen. Gemeinsam brüteten wir über solchen Werken wie dem Vert-Vert und dem Chartreuse von Gresset; dem Belphegor des Machiavelli; über Himmel und Hölle von Swedenborg; über Nicholai Klims unterirdische Reise von Holberg; über den chiromantischen Abhandlungen von Robert Fludd, von Jean d’Indaginé und von de la Chambre; über Die Reise ins Blaue hinein von Tieck und über Campanellas Der Sonnenstaat. Zu Ushers Lieblingslektüre zählte eine Kleinoktav-Ausgabe des Directorium inquisitorum aus der Feder des Dominikaners Nicholas Eymerich, und bei Pomponius Mela gab es Passagen zu den Satyrn und Ägipanen Alt-Afrikas, über die gebeugt Usher viele Stunden verträumen konnte. Ganz vernarrt war er jedoch in das Studium eines überaus seltenen und seltsamen Buches im gotischen Quartformat – das Ritualbuch einer vergessen Kirche – die Vigiliae Mortuorum secundum Chorum Ecclesiae Maguntinae.

Die bizarre Kulthandlung, zu der dieses Werk anleitet, kam mir kurz darauf besonders in den Sinn. Zugleich musste ich an ihre mögliche Auswirkung auf den Überspannten denken, nachdem dieser mich eines Abends kurz und knapp vom Tode der Lady Madeline in Kenntnis gesetzt hatte. Denn er ließ mich ebenso wissen, dass er ihren Leichnam vierzehn Tage lang (bis zur endgültigen Beisetzung) in einem der zahlreichen Gewölbe innerhalb der Grundmauern des Gebäudes aufbahren wollte. Seine Begründung für diese beispiellose Vorgehensweise erschien mir freilich nachvollziehbar. Wie er betonte, hatte Usher seinen Beschluss in brüderlicher Verantwortung gegenüber der Verblichenen gefasst. Er wies auf die Seltenheit ihres medizinischen Falles hin, auf gewisse allzu auffällige und begehrliche Erkundigungen von Seiten ihrer Ärzte und auf den mangelnden Schutz, den die einsam gelegene Familiengrabstätte vor der Heimsuchung durch Leichenräuber bot. Seine Worte erinnerten mich an das heimliche Frohlocken im Gesichtsausdruck der Person, die ich bei meiner Ankunft im Haus auf der Treppe angetroffen hatte. Ich muss sagen, dass ich somit keine Einwände gegen eine Vorsichtsmaßnahme erhob, die ich als letztendlich harmlos und keinesfalls abwegig ansah.

Auf Ushers Wunsch hin ging ich ihm bei dieser vorläufigen Beisetzung zur Hand. Sobald der Leichnam im Sarg lag, trugen wir beide allein ihn zu seiner Ruhestätte. Das Gewölbe, worin wir ihn abstellten, war eng, feucht und vom Tageslicht völlig abgeschlossen. Es war seit Jahrzehnten oder länger nicht mehr geöffnet worden, und die Luft darin war so stickig, dass unsere blakenden Fackeln es kaum ausleuchteten. Es lag in beträchtlicher Tiefe genau unter jenem Gebäudeteil, in dem auch mein eigener Schlaftrakt sich befand. Offenbar hatte es in den fernen Tagen der Feudalherrschaft als Burgverlies furchtbaren Zwecken gedient und war später als Kammer für Schießpulver oder eine andere leicht entflammbare Substanz genutzt worden. Ein Teil des Fußbodens nämlich und das gesamte Innere des langen Bogenganges, der zum Gewölbe hinführte, waren sorgsam mit Kupferplatten ausgeschlagen. Auch die massive Eisentür besaß einen solchen Schutz. Als sie sich drehte, gaben die Scharniere unter ihrem gewaltigen Gewicht einen unerhört schrillen, kreischenden Misston von sich.

Nachdem wir unsere traurige Bürde in dieser schaurigen Unterwelt auf Stützen abgesetzt hatten, schoben wir den noch unverschraubten Deckel des Sarges ein Stück zur Seite und betrachteten das Antlitz der darin Ruhenden. Sofort fesselte mich die verblüffende Ähnlichkeit zwischen dem Bruder und der Schwester. Usher, der meine Gedanken womöglich erriet, murmelte ein paar Worte, denen ich entnahm, dass die Verblichene und er selbst Zwillinge gewesen waren, und dass seit jeher ein Seelengleichklang kaum fassbarer Natur zwischen ihnen bestanden hatte.

Doch ruhten unsere Blicke nicht lange auf der Toten – denn wir konnten sie nicht ohne scheue Furcht betrachten. Das Leiden, dem die Lady in der Blüte ihrer Jugend erlegen war, hatte, wie es bei Katalepsie-Toten häufig vorkommt, wie zum Hohn eine zarte Röte auf Brust und Antlitz hinterlassen und den Lippen jenes so tückisch darauf verweilende Lächeln verliehen, das an Leichen so grässlich ist. Wir rückten den Sargdeckel an seinen Platz und schraubten ihn fest. Nachdem wir auch die Eisentür hinter uns geschlossen hatten, erklommen wir die vielen Stufen zu den kaum minder düsteren Zimmerfluchten der oberen Stockwerke.

Einige Tage bitteren Grams verstrichen. Während dieser Zeit nun vollzogen die äußeren Symptome der geistigen Zerrüttung meines Freundes einen merklichen Wandel. Sein bisheriges Verhalten fiel von ihm ab. Seine bisherigen Zeitvertreibe wurden vernachlässigt oder waren vergessen. Er streifte mit gehetzten, ungleichmäßigen und ziellosen Schritten von Zimmer zu Zimmer. Die Blässe seines Gesichtes nahm, soweit möglich, eine noch totenähnlichere Färbung an – der leuchtende Glanz seiner Augen hingegen erlosch völlig. Seine frühere gelegentliche Heiserkeit beim Sprechen war gewichen und ein Zittern und Schwanken, wie von namenloser Angst, trat jetzt oft in seine Stimme. Ja, es gab Momente, da glaubte ich, er ränge nach Mut, um irgendein bedrückendes Geheimnis zu bekennen, mit dem sein ständig fiebernder Geist sich quälte. Dann wiederum war ich geneigt, alles den unerklärlichen Irrungen des Wahnsinns zuzuschreiben – wenn ich ihn nämlich stundenlang ins Leere starren sah, wobei seine Körperhaltung äußerste Aufmerksamkeit verriet, als lauschte er gespannt auf irgendein eingebildetes Geräusch. Es war kein Wunder, dass sein Zustand mich entsetzte – ja, dass er mich ansteckte. Ich fühlte, wie die Einflüsse, denen seine fantastischen, doch auch eindrucksvollen Wahnvorstellungen unterlagen, langsam, aber sicher auch auf mich übergriffen.

In der Nacht des siebten oder achten Tages nach der Aufbahrung der Lady Madeline im Kellergewölbe suchten diese Anwandlungen mich besonders machtvoll heim. Ich war spät zu Bett gegangen, aber kein Schlaf nahte meinem Lager. Die Stunden troffen dahin. Ich bot alle Vernunftgründe auf, um die nervöse Anspannung, die mich beherrschte, zu überwinden. Ich redete mir ein, dass vieles oder sogar alles von dem, was mich beunruhigte, dem verstörenden Einfluss der düsteren Zimmereinrichtung zuzuschreiben war – den dunklen und zerschlissenen Wandbehängen, die, unsanft aufgestört von den Atemstößen eines anschwellenden Sturmes, an den Wänden ruhelos hin und her wogten und unbehaglich raschelnd über die Verzierungen meines Bettes strichen. Doch meine Mühen blieben fruchtlos. Ein unbezähmbares Beben erfasste Stück für Stück meinen ganzen Körper, und nach einiger Zeit kauerte ein Alp völlig grundloser Angst auf meinem Herzen. Keuchend, warf ich diesen mit einem Ruck von mir ab und setzte mich in den Kissen auf.

Angespannt spähte ich in die pechschwarze Finsternis des Zimmers. Zugleich zwang eine instinktive Eingebung mich – warum auch immer –, auf einige gedämpfte, unbestimmte Laute zu horchen, die während der Sturmpausen in langen Abständen – woher auch immer – an mein Ohr drangen. Ein irres Entsetzen übermannte mich, das sich nicht erklären und noch weniger ertragen ließ. Da in dieser Nacht an Schlaf nicht mehr zu denken war, warf ich hastig meine Kleider über und marschierte in dem Versuch, mich aus meinem jammervollen Zustand zu erlösen, rasch im Zimmer auf- und ab.

Ich hatte auf diese Weise kaum einige Kehrtwenden absolviert, als leise Schritte auf einer angrenzenden Treppe mich aufhorchen ließen. Ich erkannte sofort, dass sie von Usher stammten. Im nächsten Moment pochte er auch schon sacht an meine Tür. Eine Laterne in der Hand, trat er zu mir ein. Sein Gesicht war wie stets leichenhaft fahl – doch darüber hinaus flackerte eine Art von irrer Heiterkeit in seinen Augen. Eine gerade noch gebändigte Hysterie lauerte in seinem ganzen Gebaren. Sein Aussehen erschreckte mich. Und doch war alles besser als die Einsamkeit, die ich bis eben erduldet hatte, und so begrüßte ich seine Gegenwart geradezu als eine Erlösung.

»Und du hast es nicht gesehen?«, stieß er unvermittelt hervor, nachdem er einige Augenblicke lang schweigend in die Runde gestarrt hatte. – »Du hast es also wirklich nicht gesehen? – doch warte! Jetzt sollst du es sehen.« Während er sprach, schirmte er seine Laterne sorgsam mit einer Hand ab. Sodann eilte er zu einem der Fensterflügel – und stieß ihn weit in den Sturm hinein auf.

Die ungestüme Wut der hereinfauchenden Böe riss uns fast von den Füßen. Es war eine wilde, aber auch schrecklich-schöne Sturmnacht, und ganz einzigartig in ihrem Schrecken wie in ihrer Schönheit. Anscheinend hatte sich in unserer Nachbarschaft ein Wirbelsturm zusammengebraut, denn es blies ungebärdig und jäh umschlagend aus ständig wechselnden Richtungen. Die dicht geballten Wolken hingen so tief, dass sie bereits auf die Mauertürme des Hauses drückten. Dies hinderte uns jedoch nicht, den rasenden Flug wahrzunehmen, mit dem sie gleich beseelten Wesen von überall her aufeinander einjagten, ohne in die Ferne weiterzuziehen. Ich betone, dass selbst die außerordentliche Wolkendichte uns nicht hinderte, dies zu erkennen – dabei schienen weder Mond noch Sterne, und auch kein Blitzstrahl flammte auf. Doch die Unterseite der ungeheuren, wildbewegten Wolkenmasse sowie alle Objekte auf der Erde ringsum glommen im unnatürlichen Schimmer einer schwach glosenden und deutlich sichtbaren gasigen Ausdünstung, die über allem hing und das Haus wie ein Leichentuch umhüllte.

»Dies darfst du nicht – dies sollst du nicht anschauen!«, sagte ich erschaudernd zu Usher und zog ihn mit sanfter Gewalt vom Fenster fort zu einem Sessel. »Diese Erscheinungen, die dich so aufregen, sind bloße elektrische Naturphänomene – oder vielleicht haben ihren grausigen Ursprung in dem scheußlichen Pesthauch des Sees. Wir wollen dieses Fenster schließen – die Luft ist ungesund kalt und schadet dir nur. Hier haben wir einen deiner Lieblingsschmöker. Ich will vorlesen, und du sollst zuhören – und so werden wir diese Schreckensnacht gemeinsam durchstehen.«

Der alte Band, den ich in der Hand hielt, war der Mad Trist von Sir Launcelot Canning. Ich hatte ihn auch eher in trübem Scherz als im Ernst Ushers Lieblingsbuch genannt. In Wahrheit bietet der plumpe und fantasielose Schwulst dieses Werkes wenig, was den fein gestimmten und hochfliegenden Geist meines Freundes hätte anregen können. Doch war gerade kein anderes Buch greifbar gewesen. Außerdem hegte ich die vage Hoffnung, dass Ushers unbändige Erregung gerade von der Überdosis an Albernheiten gedämpft würde, die ich ihm vorlesen wollte (derartige Widersprüche kommen ja in der Geschichte der Geisteskrankheiten häufig vor). Und nach der angespannten Miene äußerster Konzentration zu urteilen, mit der er den Worten der Erzählung lauschte, oder vermeintlich lauschte, hätte ich mir zum Erfolg meines Kunstgriffes tatsächlich gratulieren dürfen.

Ich war bis zu jenem wohlbekannten Absatz der Geschichte gelangt, wo Ethelred, der Held des Trist, sich den gewaltsamen Zugang zur Eremitenklause erzwingt, da ihm der gutwillige Zutritt verwehrt worden war. An dieser Stelle hat die Geschichte, wie man sich erinnern wird, folgenden Wortlaut:

»Und Ethelred, in dessen Busen von Natur ein mannhaft Herz schlug, und der vermöge des kraftvollen Rebentrunks, dessen er sich zuvor erlabt, nun selbst von Kraft strotzte, vertändelte ab jetzt keine Zeit mehr dadurch, Zwiesprache mit dem Klausner zu pflegen, der wahrlich verstockten und ruchlosen Schlages war, sondern hub, da er den Regen auf seinen Schultern verspürte und er dem aufziehenden Unwetter wollt’ entrinnen, stracks seinen Streitkolben und schuf vermittelst kräftiger Hiebe gegen die Bretter der Tür weidlich Raum für seinen Panzerhandschuh; und allsodann ging er mit beherzter Faust zu Werk und brach und zerrte und riss alles entzwei und in Stücke, so dass das Splittern des trock’nen und hohl tönenden Holzes durch den gesamten Forst schallte und widerhallte.«

Bei den letzten Worten dieses Satzes schreckte ich aus der Lektüre auf und hielt einen Herzschlag lang den Atem an; denn obwohl ich es sogleich als Narrenstreich meiner überreizten Fantasie abtat, schien es mir doch … ja, mir schien, als würde aus einem weit entfernten Teil des Hauses schwach ein Laut an mein Ohr dringen. Ein Laut, der sich geradezu wie ein getreues, doch auch unterdrücktes und gedämpftes, Echo jenes krachenden und berstenden Geräusches anhörte, das Sir Launcelot so unnachahmlich beschrieben hatte. Zweifellos war es nur diese zufällige Übereinstimmung gewesen, die mich hatte aufhorchen lassen. Denn inmitten des Rüttelns der Fensterrahmen und der Lärmkulisse des immer wütenderen Sturmes haftete dem Geräusch an sich nichts Auffälliges an, wodurch es mich hätte hochscheuchen können. Ich fuhr also in der Geschichte fort:

»Doch da nun der wack’re Kämpe Ethelred durch die zerschlag’ne Pforte stampfte, verwunderte er sich über alle Maßen und ergrimmte sehr, als er keine Spur des ruchlosen Klausners gewahrte, sondern an dessen Statt ein ungeschlachtes Drachentier von wundersam schuppigem Gebaren und feurigem Odem, das hielt Wacht vor einem Palast ganz aus Gold mit einem Pflaster von reinstem Silber. Und an der Wand hing ein Schild von schimmerndem Erz, worin folgende Inschrift stand graviert:

Wer hier dringt ein, den Sieg mit sich bringt;
Wer den Drachen bezwingt, der den Schild auch erringt.

Und Ethelred schwang seinen Streitkolben hoch empor und ließ ihn auf des Drachen Haupt niederfahren, der ihm zu Füßen hinsackte und seinen fauligen Odem mit einem Schrei aushauchte, der gar so grässlich und schrill tönte und gar so gräulich gellte, dass Ethelred sich hätte die Ohren mit den Händen versiegeln mögen, zur Verwahrung gegen diesen schrecklichen Laut, dessengleichen noch niemals zuvor ward vernommen.«

An dieser Stelle hielt ich abermals jäh inne, diesmal in höchster Bestürzung – denn jetzt war kein Zweifel mehr möglich, dass ich es tatsächlich hörte, wenn ich auch unmöglich hätte sagen können, aus welcher Richtung es kam: einen leisen, offenbar fernen, aber durchdringenden, langgezogenen und überaus sonderbaren Ton – ein schrilles Quietschen oder Kreischen und die haargenaue Wiederholung des unnatürlichen Drachenschreis, den die Worte des Romandichters eine Sekunde zuvor in meiner Fantasie heraufbeschworen hatten.

Tausende widerstreitende Empfindungen beherrschten mich angesichts dieser zweiten und absolut außergewöhnlichen Übereinstimmung – am stärksten jedoch Verblüffung und äußerstes Grauen. Trotzdem besaß ich genug Geistesgegenwart, nicht durch irgendeine Bemerkung die empfindliche Nervosität meines Gefährten noch zu steigern. Ich war nämlich keineswegs sicher, dass er die fraglichen Geräusche ebenfalls gehört hatte. Doch war während der letzten Minuten unstrittig eine sonderbare Änderung in seinem Verhalten eingetreten: Nachdem er anfangs mir zugewandt dagesessen hatte, war er nach und nach mit seinem Sessel immer weiter herumgerückt, so dass er jetzt zur Tür schaute. Daher konnte ich sein Gesicht nur teilweise erkennen. Aber ich sah, dass seine Lippen zuckten, so als flüsterte er unhörbar vor sich hin. Sein Kinn war auf die Brust gesunken – doch als ich einen kurzen Blick auf sein Profil erhaschte, verriet mir sein weit und starr geöffnetes Auge, dass er nicht schlief. Dazu passte auch die Bewegung seines Körpers. Denn er wiegte sich sanft und stetig von einer Seite zur anderen. Nachdem ich all dies raschen Blicks erfasst hatte, kehrte ich zu Sir Launcelots Geschichte zurück. Sie nahm folgenden Fortgang:

»Und itzt, da der Kämpe der grimmen Wut des Drachen ward entronnen, und da er des ehernen Schildes gedachte und sich besann, dass der Zauberbann, unter dem es gestanden, nunmehr ward gebrochen, zerrte er das hingestreckte Untier aus dem Weg und schritt kühn über das silberne Pflaster des Palastes zu der Wand hin, wo der Schild hing; dieser jedoch verharrte nicht, bis dass der Recke sich genaht, sondern fiel ihm zu Füßen auf die Silberdielen, was einen gewaltig schallenden und scheußlich klirrenden Ton machte

Kaum waren diese Silben über meine Lippen gekommen, da vernahm ich deutlich ein hohl klingendes, metallisch dröhnendes, aber offenbar gedämpftes Hallen – als wäre in diesem Augenblick tatsächlich ein schwerer Eisenschild auf einen Silberboden aufgeschlagen.

Völlig außer Fassung gebracht schnellte ich empor; doch die monotone Schaukelbewegung Ushers dauerte fort. Ich stürzte zu dem Sessel hin, in dem er saß. Sein Blick war unverwandt geradeaus gerichtet und auf seinem Gesicht lag eine steinerne Starre. Doch als ich meine Hand auf seine Schulter legte, durchlief ein heftiger Schauder seinen ganzen Körper. Ein wehes Lächeln umzuckte seine Lippen und ich bemerkte, dass er ein leises, gehetztes und unverständliches Flüstern ausstieß, so als wäre er sich meiner Gegenwart nicht bewusst. Ich beugte mich dicht über ihn. Und endlich sickerte der furchtbare Sinn seiner Worte in mich ein:

»Hör’ ich es denn nicht? – oh ja, ich höre es und ich habe es gehört. Lange – lange – lange – viele Minuten, viele Stunden, viele Tage lang hab ich es gehört – aber ich wagte nicht – weh mir, elender Wicht, der ich bin! – Ich wagte nicht – Ich wagte es nicht, zu sprechen! Wir haben sie lebend in die Gruft gesperrt! Sagte ich nicht, meine Sinne wären geschärft? Jetzt sage ich dir, dass ich ihre allerersten schwachen Regungen im hohlen Sarg vernahm. Ich hörte sie – vor vielen, vielen Tagen schon – und doch wagte ich nicht – wagte ich nicht zu sprechen! Und jetzt – heute Nacht – Ethelred – ha! ha! – da barst die Tür des Eremiten, da schrie der Drache im Todeskampf und der Schild schlug dröhnend auf … Sag lieber: ihr Sargdeckel krachte, und ihre Kerkertür kreischte aus eisernen Angeln, und sie kämpfte sich qualvoll voran durch den kupferbeschlagenen Kellergang der Gruft! Ach, wohin nur soll ich fliehen? Wird sie nicht gleich hier sein? Eilt sie nicht heran, um mich wegen meiner Überstürzung anzuklagen? Hab ich nicht eben ihre Schritte auf den Stufen gehört? Vernehme ich nicht den schweren und schrecklichen Schlag ihres Herzens? WAHNSINNIGER!« Hier sprang er wie rasend auf und schrie die Silben heraus, als fahre ihm dabei die Seele aus dem Leib: »WAHNINNIGER! ICH SAGE DIR, DASS SIE BEREITS VOR UNSERER ZIMMERTÜRE STEHT!«

Als hätte die übermenschliche Energie seiner Worte Zauberkräfte entbunden – schwangen im selben Augenblick die gewaltigen, vertäfelten Flügel der alten Doppeltür, auf die der Sprecher wies, langsam zurück, als klappten zwei schwere Kinnladen aus Ebenholz auf. Es war nur das Werk eines der Windstöße gewesen – doch hinter den Türflügeln stand wahrhaftig die hohe, von Leichentüchern umwehte Gestalt der Lady Madeline Usher. Blut sprenkelte ihre weißen Hüllen und die Spuren eines verzweifelten Kampfes zeigten sich überall an ihrem ausgemergelten Körper.

Einige Herzschläge lang verharrte sie zitternd und schwankend auf der Schwelle, dann taumelte sie mit einem leisen, seufzenden Aufstöhnen ins Zimmer herein. Sie stürzte auf ihren Bruder zu und riss ihn in ihrem heftigen und nunmehr endgültigen Todeskampf mit sich zu Boden – als ein entseeltes Opfer der Schrecken, die er bereits seit vielen Tagen gefürchtet hatte.

Von Entsetzen gejagt, floh ich aus jenem Zimmer, aus jenem Haus. Draußen tobte der Orkan noch mit voller Wut, als ich auf den alten Dammweg hinauslief. Plötzlich fiel ein düsterer Glutschein auf meinen Weg. Ich blickte zurück, um zu sehen, woher ein solch geisterhaftes Aufleuchten rührte – denn hinter mir lagen nur das riesige Haus und seine Schatten.

Es war der Loderschein des in blutiger Röte versinkenden Vollmondes, der jetzt deutlich durch jenen einst kaum sichtbaren Riss strahlte, den ich bereits erwähnte und der im Zickzack vom Dach des Gebäudes bis zu seinen Grundfesten verlief. Während ich darauf starrte, klaffte dieser Spalt rasch immer weiter auf – ein Schnauben des Sturmwinds fegte heran – jäh trat die volle Scheibe des Mondes in meinen Blick – mir schwindelte, als ich die mächtigen Gemäuerhälften vor mir auseinander sinken sah – ein schier endloses, ohrenbetäubendes Tosen wie von tausend Wasserfällen – und der bodenlose, eisige See zu meinen Füßen schloss sich schwarz und schweigend über den Ruinen des »HAUSES USHER«.

 

(Anm. d. Übers.: In der Erzählung wird ein Instrumentalstück namens Webers letzter Walzer erwähnt. Bei Poe heißt es an dieser Stelle unrichtig: »(…) the last walz of Von Weber«. Gemeint ist aber nicht eine fiktive letzte Walzerkomposition Carl Maria von Webers (1786-1826), sondern der Weber unmittelbar nach dessen Tod unter dem irreführenden Titel Dernière pensée musicale de C. M. v. Weber (C. M. von Webers letzter musikalischer Gedanke) ›untergeschobene‹ Wehmuts-Walzer (veröffentlicht 1824) des Komponisten Carl Gottlieb Reissiger (1798-1859), im Englischen als Weber’s Last Waltz bekannt. Diese mutwillige Verwechslung führte zu Poes Irrtum, der in den meisten deutschen »Usher«-Übersetzungen erhalten blieb.)

 

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